Preisträger 2011

Kunstpreis Literatur 2011 

Daniela Seel
geboren 1974 in Frankfurt/Main, lebt in Berlin. Veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften, Zeitungen, Anthologien, im Internet und im Radio. Gründete 2000 gemeinsam mit den Autoren Jan Böttcher, Alexander Gumz, Karla Reimert und Uljana Wolf KOOKread, den Literaturzweig des Künstlernetzwerks KOOK. Gründete 2003 mit dem Buchkünstler und Illustrator Andreas Töpfer als festem freien Art Director kookbooks – Labor für Poesie als Lebensform. Verdient ihren Lebensunterhalt u. a. als Dichterin, Verlegerin, Redakteurin, Korrektorin, Kritikerin, Moderatorin, Jurorin, Veranstalterin, mit Vorträgen und Lesungen. Erhielt u. a. den Kurt-Wolff-Förderpreis 2006 und den Horst-Bienek-Förderpreis 2007. Ihr erster Gedichtband „ich kann diese stelle nicht wiederfinden“, kookbooks 2011, wurde mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet.

Jurybegründung
Den Lotto Brandenburg Kunstpreis in der Sparte Literatur des Jahres 2011 erhält Daniela Seel für ihren Gedichtband „ich kann diese stelle nicht wiederfinden“, 2011 in ihrem Verlag kookbooks erschienen, der in seiner Erkundung der Innenwelten moderner Individualität Alltagsszenen, Landschaften, Gesten und Berührungen mit großer sprachrhythmischer Kraft zur Darstellung bringt. Er überzeugt durch hohe Dichte poetischer Bilder und Reflexionen.
Immer gehen ihre Gedichte von konkreten Situationen aus, und führten in sie zurück, selbst erzählende Passagen sind eingebunden. Das Ich dieser Gedichte ist unpathetisch auf der Suche nach sich selbst und findet in der avancierten Form reimloser, gedankenvoller Verse eindringliche Bilder für die Erfahrungen vergehender Zeit, verblassender Erinnerungen, verschütteter Glücksmomente und nachwirkender Begegnungen mit Krankheit und Tod. Insbesondere das Titel gebende Gedicht über ein totgeborenes Kind beeindruckt mit höchster Sensibilität und analytischer Strenge.

Kunstpreis Fotografie 2011 

Ute Mahler
1949 geboren in Berka bei Sondershausen (Thüringen) 1969 –1974 Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig 1974 Diplomabschluss seit 1974 als freiberufliche Fotografin tätig, Auftragsarbeiten für die Zeitschrift „Sibylle“ – Mode und Porträtfotografie, Auftragsarbeiten für „Amiga“ – Porträts, Cover, Poster der Rockgruppen der DDR 1972 –1987 freie Arbeit „Zusammenleben“ 1990 Gründungsmitglied von „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“, Berlin, journalistische Arbeiten u. a. für Stern, Geo und diverse ausländische Magazine 1992 –1995 freie Arbeit „Die Ratten“ 1997–2008 freie Arbeit „Spuren suchen“ seit 1999 Lehrauftrag an der Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design, Halle seit 2000 Professur für Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg 2004 –2005 freie Arbeit „die neuen Alten“ seit 2005 Dozentin an der „OSTKREUZSchule für Fotografie“, Berlin, lebt in Hamburg und Lehnitz bei Berlin

Werner Mahler
1950 in Boßdorf (Sachsen-Anhalt) geboren 1971–1973 Assistent bei dem Fotografen Ludwig Schirmer, Berlin 1973 –1978 Studium für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig (HGB) 1978 Beginn der freiberuflichen Tätigkeit als Fotograf, 1979 –1981 Aspirantur an der HGB Leipzig, Abteilung Fotografie 1984 –1985 freier Mitarbeiter der Zeitschrift „Für Dich“ 1990 Gründungsmitglied von „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“, Berlin, bis heute Geschäftsführer der Agentur 2002 – 2004 Dozent an der Schule „Fotografie am Schiffbauerdamm“, Berlin 2005 Gründer der Fotoschule „OSTKREUZSchule für Fotografie“, Berlin (mit Thomas Sandberg), lebt in Lehnitz bei Berlin

Bewerbung
Monalisen der Vorstädte (2008 –2011)
Die Bilder der „Monalisen der Vorstädte“ sind in 5 Städten Europas entstanden.
Wir haben uns dem Projekt vom Norden, über den Süden, dem Westen, dem Osten genähert. Berlin war das Zentrum und unser Ausgangspunkt.
Dort und in Reykjavik, Florenz, Liverpool und Minsk sind Porträts von jungen Frauen entstanden, die einen Moment ihres Alltags für uns unterbrochen haben, um sich von uns fotografieren zu lassen.
Ein wichtiger Aspekt war, die Frauen an den Orten zu finden, die mit ihrem Leben verbunden sind, an denen sie leben oder arbeiten. Dort haben wir sie angesprochen und gebeten, ein Porträt von ihnen machen zu können.
Der zweite Teil der Arbeit besteht aus Architekturaufnahmen der jeweiligen Vorstädte.
Die Aufnahmen wurden mit einer 4 × 5 Inch Fachkamera auf analogen Planfilm belichtet.
Der Umfang der Arbeit beträgt circa 50 Fotos.  40 Porträts und 10 Architekturen.

Jurybegründung
Monalisen der Vorstädte
Wie zwei Forscher aus vergangenen Jahrhunderten sammelten Ute und Werner Mahler über Jahre Porträts von jungen Frauen in Randgebieten von Großstädten. Sie entwickelten zuvor ein aufwendiges Konzept, das sich an der Darstellung einer jungen Frau orientiert, die bis heute anonym geblieben ist: Leonardo da Vincis Mona Lisa – die nach ihrer Entstehung vor über 500 Jahren bis heute zu einer Ikone in der Geschichte der Malerei wurde.
Weder konzentrierten sich die beiden Fotografen auf eine Stadt noch auf ein Land, sondern reisten von Berlin aus nach Florenz, Liverpool, Minsk und Reykjavik durch ganz Europa. Mit der immer gleichen Vorgehensweise suchten sie an belebten Plätzen wie Bushaltestellen, Supermärkten, Jugendklubs nach weiblichen Gesichtern, die ihnen in der jeweiligen Umgebung besonders erschienen. Auf immer dem gleichen Hocker mit Kopfstütze wurden die Mädchen fotografiert.

Ziel war es, deutlich zu machen, wie die Vorstädte samt Umgebung auf Menschen wirken, denn urbane Randgebiete sind häufig Gegenden, in denen die meisten Menschen nicht bleiben wollen: Tagsüber gehen sie weg um zu arbeiten und kommen nur zum Schlafen zurück. Am Abend flanieren sie woanders, gehen an anderen Orten aus, treffen anderswo Freunde oder kaufen woanders ein. Sie ziehen weg, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Die porträtierten Frauen folgen dieser Idee: Sie sind, wie die Peripherie zwischen Stadt und Land, gleichfalls in einem Zwischenstadium von Mädchen- und Frausein, in dem noch unklar ist, in welche Richtung sich das eigene Leben entwickeln wird.
Wie wenig eigenartig es die jungen Frauen fanden, als Mona Lisa porträtiert zu werden, lassen die Bilder selbst erkennen. Sie scheinen die kurze Zäsur im Alltag als einen Moment zu verstehen, in dem es nur um sie geht und die eigene Persönlichkeit als etwas Besonderes wahrgenommen werden kann. Die Kamera wird für diesen Moment des Innehaltens zum Spiegel oder Fremdinstrument eigener Selbstreflexion, die die Aufmerksamkeit erst möglich macht.

Ute und Werner Mahler überführen die Idee des einmaligen Ölbilds von Leonardo da Vinci in eine Serie von vielen Frauen, die wie Schmetterlinge als Silbergelatinefotografien, und damit als physische Blätter in tiefen Rahmen hängt – genau auf jenes Maß der Mona Lisa von 77 × 53 cm gebracht. Die konzeptuelle Stringenz und die technische Qualität lassen neben einer kunst- und fotohistorischen Tradition auch ein Nachdenken über aktuelle Themen wie den urbanen Lebensraum erkennen, der sich in den Gesichtern der Menschen ebenso niederzuschlagen scheint, wie er im Hintergrund der Bilder erkennbar ist. Und das macht diese Arbeit zu einer gesellschaftspolitischen Studie, die weit mehr ist als ein Nachdenken über die Kunstgeschichte.

Felix Hoffmann (Jury Fotografie)

Simon Menner
geboren 1978 in Emmendingen, Baden-Württemberg 2002 – 2007 Student an der Universität der Künste Berlin in der Klasse von Prof. Dieter Appelt und Prof. Stan Douglas 2005 Student an der School of the Art Institute, Chicago 2007 Meister-schüler an der Universität der Künste Berlin, Meisterschülerpreis für die beste Abschlussarbeit 2007 lebt und arbeitet in Berlin

Bewerbung
Bilder aus den geheimen Archiven der Staatssicherheit (2010 –2011)
Als Künstler faszinieren mich Bilder, die auf unterschiedliche Arten, mit gänzlich unterschiedlichen Resultaten dekodiert werden können. Ein Bild zeigt uns etwas scheinbar ganz Konkretes, doch dieses „Etwas“ verändert sich grundlegend und kontinuierlich. Dies geschieht durch das, was wir wissen und vor allem durch das, was wir erwarten zu sehen. Auf einer persönlichen Ebene mag dies in der Regel keinen so entscheidenden Einfluss haben. Wahrnehmung beschränkt sich aber nicht auf die Ebene des Persönlichen, sondern sie spielt auch im Bereich der Überwachung eine entscheidende Rolle. Hier aber kann eine sich verändernde Wahrnehmung schnell Willkür bedeuten.
Ich habe mich intensiv mit dem Thema der Überwachung auseinandergesetzt. Dabei musste ich aber feststellen, dass nur sehr wenig Bildmaterial zugänglich ist, welches den Akt des Überwachens aus dem Blickwinkel des Überwachenden zeigt. Natürlich, wir alle kennen die unscharfen Aufnahmen von Überwachungskameras, aber ich vermutete, dass es hier mehr geben muss. Was eigentlich sieht der orwellsche Große Bruder, wenn er uns beobachtet?
Die hier gezeigten Bilder entstammen alle den Archiven der Staatssicherheit. Mir geht es darum, die Bildproduktion eines repressiven Systems zu zeigen, um so Parallelen zur heutigen Situation zu ziehen. Viele dieser Bilder mögen uns absurd oder vielleicht sogar amüsant erscheinen, dabei darf man aber keinesfalls die Intention aus den Augen lassen, die zu diesen Bildern führte. Es handelt sich um Aufnahmen der Repression, die ein Staat genutzt hat, um Terror innerhalb der Bevölkerung zu erzeugen. Für mich macht die Banalität mancher Bilder den Schrecken, den ich empfinde, nur noch größer. Sie sind vollkommen offen für jedwede Interpretation und damit instrumentalisierbar gemäß der Erwartung desjenigen der sich ihrer bedient. Zum Beispiel das Bild einer Siemens Kaffeemaschine. Als westdeutsches Produkt kann es gesehen werden – als Beleg für Kontakte zu westlichen Agenten, oder schlicht als Geschenk von Verwandten. Der Unterschied kann Jahre im Gefängnis bedeuten. Ich denke hier zeigen sich grundsätzliche Beschränkungen, denen jede Form von Überwachung unterliegt.
Die hier gezeigten Bilder stellen lediglich einen Bruchteil des Projekts dar.

Jurybegründung
Bilder aus den geheimen Archiven der Staatssicherheit
Aufgrund zahlreicher Medienberichte ist die Arbeit der Stasi-Unterlagen-Behörde allgemein bekannt. Jeder weiß hierzulande, dass Betroffene ebenso Akteneinsicht erhalten können wie Historiker und Journalisten. Mit Simon Menner hat Anfang 2010 ein Künstler den Antrag gestellt, Einblick in das umfassende Fotoarchiv zu erhalten. Ein für die Behörde ungewöhnliches Anliegen, dem sie aber aufgrund der Ernsthaftigkeit sehr aufgeschlossen gegenüberstanden. Ausgehend von einzelnen Themen und Stichworten legten ihm Sachbearbeiter Material vor, aus dem Simon Menner Motive für Reproduktionen auswählen konnte. Ein scheinbar unendlicher Fundus, dem er mit einem Ordnungssystem begegnen musste. So zeigen einzelne Kapitel bei Wohnungsdurchsuchungen entstandene Bilder, Portraits von Stasi-Mitarbeitern in Tarnkleidung, Fotografien von Spionen oder auch das Ergebnis der Überwachung eines Briefkastens. Um Persönlichkeitsrechte zu wahren hat die Behörde Gesichter meist verpixelt, bevor Simon Menner die Daten erhielt.

Was auf den ersten Blick skurril, ja sogar komisch erscheint, dokumentiert das Vorgehen eines repressiven Staates. Zugleich lassen die Fotografien unterschiedliche Interpretationen zu. Als Künstler zeigt uns Simon Menner Dinge, die sonst verborgen bleiben. Dass er dabei nicht selber zur Kamera griff und die Motive auch später nicht bearbeitete oder veränderte, ist dem Thema angemessen. Aus einem riesigen Archiv sehen wir eine Bildauswahl, die das perfide System der Stasi auf unmittelbare, verstörende Weise deutlich macht.

Anna Gripp (Jury Fotografie)