Preisträger 2015

Kunstpreis Literatur 

Julia Wolf

1980 geboren in Groß-Gerau, Hessen, Studium der Amerikanistik und Germanistik, lebt als freie Autorin und Hörspielmacherin in Berlin, veröffentlichte Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien, 2000 Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin, 2007 Stipendiatin des Künstlerhauses Lukas in Ahrenshoop und des Hessischen Literaturrats in Madison, Wisconsin, 2010 Uraufführung Theaterstück „Der Du“ am Düsseldorfer Schauspielhaus, Werkstatttage am Wiener Burgtheater, 2011 Teilnahme an den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters mit „Ein Mädchen namens Elvis“, 2011/12 Hörspiel „Happy End“ mit Ragnhild Sørensen als Serie für NDR/SWR/WDR, 2012 Autorenförderung von der Film- und Medienstiftung NRW für das Hörspielprojekt „Frauen ohne Männer“ mit Ragnhild Sørensen, 2012 Drehbuchprojekt „Esperanza“ in Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma Rohfilm, erhielt von der Filmförderanstalt FFA Drehbuchförderung, 2015 Debütroman „Alles ist jetzt“ erschien im Februar in der Frankfurter Verlagsanstalt.

Jurybegründung

Julia Wolf, die 1980 im hessischen Groß-Gerau geboren wurde und heute in Berlin lebt, ist bisher als Autorin von Hörspielen, Erzählungen und Theaterstücken hervorgetreten. Mit ihrem Buch “Alles ist jetzt” hat sie einen beeindruckenden Debütroman vorgelegt. Lakonisch und mit sicherem Gefühl für Tempo und Perspektive erzählt Julia Wolf von den verstörenden Erfahrungen des Kindes in einer zerbrochenen Familie, vom Aufwachsen in der westdeutschen Provinz, dem Ausbruch in die Großstadt und vom Weiterleben biographischer Muster in der Gegenwart. Sie öffnet den erzählerischen Raum in die Vergangenheit als Tableau für die illusionslose Erkundung der Gegenwart. Ihre Figuren zeichnet sie in eindringlichen Bildern und mit sprachlicher Genauigkeit. “Alles ist jetzt” weist Julia Wolf als eine Autorin aus, die bereits mit ihrem ersten Buch zu einer eigenen literarischen Stimme gefunden hat.

Dr. Peter Walther
Jury

Kunstpreis Fotografie 

Stephanie Steinkopf

1978 geboren in Frankfurt (Oder), Brandenburg, 1996/97 „Jugendstil-Photographie“: Künstlerische Leitung Sabine Foerster, gefördert von Förderverband e.V., Berlin, 2002 bis 2003 Konzeptentwicklung und Leitung des multimedialen Gemeinschafts-projekts „ZZLUPE“, Jugend für Europa und Schlesische27, Berlin, 2003 bis 2004 Künstlerische Leitung in der internationalen Jugend Kunstarbeit, 2008 Magister Musikethnologie, Lateinamerikanistik, Neuere Geschichte an der FU Berlin, 2009 bis 2012 Studium der Fotografie an der Ostkreuzschule Berlin, 2012 1. Preis Vattenfall Fotopreis, 2013 Projektförderung der VG Bildkunst, nominiert für Arbeitsstipendium DZ Bank Kunstsammlung Frankfurt am Main, 2013/2014 Fotopreis gute aussichten – junge deutsche Fotografie, European Photo Exhibition Award epea 02, 2014/2015 Künstleraufenthalte in Helsinki, Finnland; gefördert durch das Goethe Institut Helsinki und HIAP (Helsinki International Artist Program), seit Oktober 2014 Mitglied bei Ostkreuz – Agentur der Fotografen, lebt in Berlin.

Bewerbung

Mein Ausgangspunkt war, mich fotografisch mit dem Thema Altersarmut im Kontext von Obdachlosigkeit zu beschäftigen. Die derzeit steigenden Mietkosten und die Verschärfung sozialer Verhältnisse führen zu Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit in Berlin und anderen Städten Deutschlands. Die Wahrnehmung von Obdachlosen in unserer Gesellschaft entspricht nur einem Bruchteil der Realität, die zeigt, dass viele Obdachlose zunehmend nicht als solche erkennbar sind.

Im Laufe der Zeit merkte ich, dass ich mich auf obdachlose Frauen konzentrierte und ich begegnete vielen Themen. Ich begegnete einer Altersarmut, deren Definition nicht der entspricht, die wir über die mediale Verbreitung erfahren. Es handelt sich vielmehr um eine Altersarmut, in der in einem Alter von Ende 50 alle sozialen Netzwerke aus verschiedenen Gründen wegbrechen. Die meisten obdachlosen Frauen sind psychisch erkrankt und wählen ein Leben auf der Straße. Sie entscheiden sich bewusst gegen ein betreutes Wohnen, weil sie Angst vor den Institutionen haben, eventuell mit der finalen Konsequenz, in die geschlossene Abteilung einer Psychia-trie eingewiesen zu werden. Für sie ist ein selbstbestimmtes Leben von großer Bedeutung. Ich frage mich, ab wann die Frauen entscheiden zu gehen, dann, wenn sie glauben, die Familie sei mit der psychischen Erkrankung, z. B. ihrer Mutter, überfordert? Was bedeutet es, als Frau auf der Straße zu leben? Wie ist es generell, auf der Straße zu leben?

Ich begleitete in einem Zeitraum von zwei Jahren 2013 bis 2015 einige Obdachlose, unter ihnen vier Frauen im Alter ab Mitte 50 bis Mitte 70. Siggi und Hilde sind zwei Frauen Ende 50, die sich kennen und eine gewisse Zeit miteinander verbrachten.
Die fotografische Arbeit ist überwiegend im Berliner Regierungsviertel verortet. Der Berliner Hauptbahnhof ist der Ausgangspunkt und im Tiergarten verliert sich jede Spur.

Meine Arbeitsweise:
Ich verbringe sehr viel Zeit mit meinen Protagonisten. Ich schlief im Sommer wie im Winter ebenfalls auf der Straße, auf der Bank, unter der Brücke und im Tiergarten. Diese Herangehensweise empfand ich als notwendig, um eine Innenperspektive zu entwickeln. Es ist ein äußerst sensibles Thema, da sich die Frauen sehr schwer der Kamera gegenüber öffnen.
Die Arbeit besteht aus zwei Teilen – 20 Fotografien und 15 aus Filmszenen extrahierte Einzelbilder (ein zehnminütiges Filmfragment)

Die Fotografien zeigen meine fotografische Begegnung und die Begleitung verschiedenster Personen auf der Straße. Ich habe mich auf die Nacht konzentriert – Was machen Obdachlose, wenn wir nach Hause gehen? Es handelt sich um einen Einblick in eine andere Lebensrealität.

Jurybegründung

Vogelfrei

Die fotografische Langzeitstudie „Vogelfrei“ von Stephanie Steinkopf widmet sich dem Thema der Altersarmut und der Obdachlosigkeit.
Bezugnehmend auf Agnes Vardas Film „Sans toi ni loi“ (Ohne Dach und Gesetz), der vor 30 Jahren in Deutschland unter dem Titel „Vogelfrei“ in die Kinos kam, greift Steinkopf das Thema vagabundierender Frauen auf. Im Zeitraum von 2013 bis 2015 begleitete die Fotografin vier Frauen im Alter von ca. Mitte fünfzig bis Mitte siebzig. Die meist nachts aufgenommenen Bilder konzentrieren sich formal und inhaltlich vollständig auf die Protagonistinnen. Das Blitzlicht auf die Personen gerichtet, stehen die Frauen geradezu im Scheinwerferlicht. Die Aufnahmen sind poetische, beizeiten fast glamouröse Porträts von Namenlosen. Die Misere ihrer Existenzen und deren reale Bedingungen weder kaschierend noch romantisierend verortet Stephanie Steinkopf die Beteiligten in einem Bildraum, der geradezu zur Bühne und zum trotzigen Behauptungsraum ihrer Präsenz wird. Der konkrete Ort verschwindet im Dunkeln, wird anonym und austauschbar: die Frauen bewegen sich überall und nirgendwo, manchmal unsichtbar und dennoch präsent. Meist in Berlin fotografiert, ist die Stadt in den Aufnahmen nicht identifizierbar. Teil der Serie „Vogelfrei“ sind aber auch des nächtens fotografierte Stadtansichten, die gleichsam bühnenhafte, menschenleere Unorte zeigen. Die Einzelfotografien trennen die Repräsentation von Subjekt und Handlungsraum, verzahnen beides aber innerhalb der Serie durch das Nebeneinander von Porträts und Bildern urbaner Landschaften.
Stephanie Steinkopfs Fotografien verschaffen den Betroffenen und ihren Lebensumständen, die sich jenseits der massenmedialen Aufmerksamkeit und gängiger gesellschaftspolitischer Interessen abspielen einerseits eine Sichtbarkeit, wahren andererseits aber eine respektvolle (Blick-)Distanz, die nicht nur die Sphäre des Individuums schützt, sondern auch dazu führt, dass die Fotografien über Einzelschicksale hinaus-gehend auf einen symptomatisch zu begreifenden sozialen Missstand verweisen.

Ulrike Kremeier
Jury

Rainer Sioda

1958 geboren in Treuenbrietzen, Brandenburg, 1981 bis 1985 Studium der Germanistik in Potsdam, 1986 bis 1988 Lehrer in Berlin, ab 1989 freier Fotograf, ab 1995 Schwerpunkt Projektentwicklung / Management freier Mitarbeiter beim Deutschen Jugendfotopreis, dort Jurymitglied / Projektleitung Modul im FEZ-Berlin / Innovations-preis des Landes Berlin beim Deutschen Jugendfotopreis 2001,  Projektleitung Labor für Kunst und Medien, Teilnahme an diversen bundesweiten Initiativen wie „Kultur und Bildung im Medienzeitalter“, „Sokratesprojekt“, ab 2002 Entwicklung von medien-künstlerischen Präsentationsformen mit Jugendlichen, z. B. „Sinnbus der Seefahrer“, ab 2007 Projektmanagement FEZitty, ab 2009 erneut Schwerpunkt freie künstle-rische / fotografische Arbeit, 2013 Europäischer Architekturfoto-Preis (Anerkennung), lebt in Berlin.
Publikationen: 1999 Berlintokyo, 2013 Im Brennpunkt (Europäischer Architekturfotografie-Preis), 2014 Buch: „Transatlantic Relations“

Bewerbung

Transatlantic Relations (Bilder USA/Brandenburg)

Die eingereichten Fotografien sind Auszüge aus einer Serie von ca. 140 Bildern. Sie stehen exemplarisch für Themenstränge, die darin abgehandelt werden.

In meiner Arbeit Transatlantic Relations werden Fotografien aus den USA und Brandenburg gegenüber gestellt. Diese systematische Kontextualisierung dient der Auslotung wechselseitiger kultureller Distanzen, die sich zuweilen doch als sehr relativ erweisen. Unsere Sicht auf die USA heute ist ambivalent. Sie sind uns sowohl Sehnsuchtsort, Projektionsfläche mythisch überhöhter Landschaftsvorstellungen, Inbegriff von Freiheit und Weite als auch ein Land, welches uns politisch und kulturell fragwürdig scheint. Wie auch immer die Bewertungen ausfallen, immer sind sie mit visuellen Klischees und Stereotypen verwoben. Die Spiegelung solcher Stereotype in und auf das Land Brandenburg eröffnet ein Spiel mit Bilderwartungen. In den Bildzuordnungen werden die Orte zuweilen unsicher, gelegentlich kann man sich fragen, was nun eigentlich Brandenburg ist, was die USA. Es ergeben sich überraschende und manchmal frappierende Analogien.

Transatlantic Relations ist 2014 als Buch bei PogoBooks erschienen:

„Der Titel ´Transatlantic Relations` verweist auf den spielerischen Umgang mit inhaltlichen sowie formalen Bildbeziehungen, die Sioda den jeweiligen Umgebungen abgeschaut hat. Dass hierbei die Grenze zwischen fremd und eigen zu verschwimmen beginnt, macht sowohl den Witz als auch den Tiefsinn des Bildbands aus. Rainer Sioda bekommt so noch einen weiteren Ort ins fotografische Visier: unsere Vorstellungswelt.
´Es geht mir um die profanen und absurden Aspekte einer Projektion, die wir auf die Ferne machen. Und die USA ist ein exemplarisches Beispiel dafür, da denkt man sofort Wüste, Highway, Tankstelle, Freiheit…Cowboys und Indianer. ´

Dieses Spiel mit vorgefundenen Bildern und jenen, die unser kulturelles Gedächtnis bereithält, macht die politische Bedeutung der Serie aus. Die Fotografien sind nicht einfach das Dokument einer vorgefundenen Wirklichkeit. In ihrer Zusammenstellung sind sie ein dezidierter Kommentar der Gegenwart. Da steht z. B. das Bild einesKinos, in dem bei einer Filmvorführung 12 Menschen erschossen wurden dem gegenüber eines Transparents, welches den Filmmythos des harten aber gerechten Wilden Westen der USA aufgreift, um für ein deutsches Bier Werbung zu machen.“ (PogoBooks, Pressetext)

Das „Thema“ Brandenburg ist seit Jahren ein Schwerpunkt meiner fotografischen Arbeit. Durch die intensive Auseinandersetzung mit diesem Kulturraum haben sich Wahrnehmung und Bildsprache geschärft: „Das kam ihm auch bei seiner Reise 2012 durch das ländliche Amerika zugute.Eigentlich verfolgt der Fotograf, wie er sagt, in seiner Fotografie einen sachlich-deskriptiven, dokumentarischen Ansatz. Der freilich durch provinzielle Inszenierung der Landschaft in den USA und Brandenburg aufs Surrealste gebrochen wird.“

(Brigitte Werneburg, TAZ)

 Jurybegründung
Rainer Sioda ist ein Meister des genauen Blickes. Seine Bildpaare der Serie Transatlantic Relations zeigen, vergleichen und paraphrasieren zwei Kulturlandschaften, die Südstaaten der USA und das heimische und uns recht vertraute Land Brandenburg.

Zwischen beiden Regionen liegen 8000 km Luftlinie Entfernung, viel Geschichte und noch mehr Geschichten von Besiedlung und Sehnsuchtserfüllung. Kamen die ersten europäischen Siedler mit dem Bild ihrer Heimat in die Neue Welt, kommen heute Bilder aus Amerika zu uns zurück, in Form von Bildikonen. Wir kennen sie aus unzähligen amerikanischen Filmen, die verlassenen Tankstellen und endlosen Highways, das Westernambiente kleiner verlassener Ecken aus dem großen, weiten Land.

Die Sehnsucht bricht sich Bahn, die Lust auf Abenteuer und Freiheit will angezeigt und ausgelebt werden. Das zeigt uns der Künstler ganz unaufgeregt in seinen Bildpaaren. Rainer Sioda ist, um in der Westernsprache zu bleiben, ein exzellenter Fährtenleser und spürt das Echo diverser amerikanischer Bildikonen auf. Das kann manchmal komisch und bizarr wirken, denn Brandenburg bietet nicht immer die große, weite Bühne für diese Inszenierung. Überraschenderweise ist es auch oft nicht immer sofort klar, aus welchem Land das Motiv stammt – gehört der Kiefernwald nach Brandenburg oder ist das schon Amerika?

Denkt man darüber nach, warum gerade in Brandenburg so viele amerikanische Bezüge zu finden sind, so hilft wieder der Blick in die Vergangenheit. Im geteilten Deutschland gab es 777 sowjetische Militärstützpunkte, die meisten befanden sich im heutigen Bundesland Brandenburg. Sie waren zwar vom Alltagsleben in der DDR weitestgehend abgeschottet, ihre Existenz war jedoch stets präsent. Nach dem Mauerfall konnte der renitente Brandenburger Charakter sich der politisch und geografisch anderen Seite widmen, der freie Blick ging nun von Ost nach West, anstelle sowjetischer Heldenepen, traten Erzählungen des amerikanischen Traums.

Sioda erzählt die Geschichte vom transatlantischem Wechselspiel – und ist dabei nicht nur der Dokumentarist. Sein Anliegen geht über das simple Festhalten weit hinaus, jedes einzelne seiner Bilder ist hervorragend komponiert. Ihren vollen Reiz entfalten sie in der Kombination zum Bildpaar. Hier zeigt sich Siodas Meisterschaft. Mal ist es eine Verdoppelung des Motivs, mal eine Ergänzung – es entsteht ein Bildpanorama und damit ein weiterer Bezug zum amerikanischen Film in Cinemascope.

Immer ist Siodas Blick voller Empathie, dabei mal mehr oder weniger ironisch – auch ein wenig Melancholie sehe ich darin. Wer die Spur aufnimmt, wird mit großem Spaß dabei bleiben und staunend das vertraute Land mit neuen Augen sehen. Darin ist das Medium Fotografie stark und einzigartig: Dinge zu beobachten, aufzuspüren und dem Außenstehenden sichtbar zu machen.

Michael Biedowicz
Jury