Preisträger 2010

Der Kunstpreis Literatur 2010 geht zu gleichen Teilen (jeweils 5.000 Euro) an: Hanna Lemke für die Storysammlung „Gesichertes“ und Nadja Küchenmeister für ihren Gedichtband „Alle Lichter“.

Hanna Lemke wurde 1981 in Wuppertal geboren und lebt in Berlin. Sie studierte von 2002 bis 2006 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2006 nahm sie an der Auto-renwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin sowie 2007 am Klagenfurter Literaturkurs teil. Ihr Debüt, die Storysammlung „Gesichertes“, ist im März 2010 im Verlag Antje Kunstmann erschienen.

Jurybegründung
In ihrem Debüt-Band erzählt die 29-jährige Hanna Lemke achtzehn Kurzgeschichten aus dem Biotop der Generation heutiger Twenty-Somethings. Diese Stories sind Momentaufnahmen aus einem schmalen Segment einer urbanen Mittelstandsjugend, der außer einer provisorischen und prekären Existenz nichts in Aussicht gestellt wird. Lemke liefert Zustandsbilder aus einer Generation von Unerwünschten und Unbenö-tigten, die bindungs-, ruhe- und illusionslos durch eine ungastliche Welt driften.
Was sie vorführt, sind Verhaltensweisen der Indifferenz: Ihre Figuren schützen sich in ihrer Verletzlichkeit durch vorgetäuschte Gleichgültigkeit. Emotionen zu zeigen -Schwäche, Bedürftigkeit, Hilflosigkeit, Empfindlichkeit, Schmerz, Trauer, Einsamkeit, Sehnsucht, womöglich gar Liebe – ist verpönt. Hanna Lemkes lakonische Kunst liegt darin, diese Leerstellen der Gefühle gerade im Verschweigen unaufdringlich, aber doch unübersehbar zu markieren – in ihren wortkargen Dialogen schwingt das Un-ausgesprochene immer spürbar mit.
Handwerklich genau und kunstbewusst setzt die Autorin ihre Stilmittel ein, ein fein abgestimmtes Instrumentarium des doppelten Bodens. Mit diesen Erzählungen er-hebt Hanna Lemke den Anspruch, die Judith Hermann der nächsten Generation zu werden.
Sigrid Löffler

Nadja Küchenmeister geboren 1981 in Berlin, lebt dort. Studierte Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie veröffentlichte in zahlreichen Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien, u. a. in: Akzente; TEXT+KRITIK, Neue Rundschau, Jahrbuch der Lyrik, Bella triste, Konzepte, Lyrik von jetzt zwei, DIE ZEIT, FAZ. Sie arbeitet für den Rundfunk, u. a. als Hörspielautorin und Hörspiellektorin. Im November 2009 wurde ihr Hörspiel „Drehpunkt“ vom SWR urgesendet. Sie erhielt das Berliner Senatsstipendium 2007, als Studentin des Literaturinstituts das Förderstipendium der Kulturstiftung Sachsen 2009 und das Hermann-Lenz-Stipendium 2010. „Alle Lichter” ist ihr erstes Buch.

Jurybegründung
Nadja Küchenmeister hat Gedichte geschrieben, in denen man umhergehen kann wie in Geschichten. Ein Umherstreifen, wie abwesend, wie in Gedanken, die ansonsten unausgesprochen bleiben, weil sie viel mehr zur Geschichte des Blicks und der Empfindung gehören, die ihn begleiten.
Diese Gedichte vertrauen den Dingen, den Geräuschen und Gerüchen auf eine gütige, fast liebevolle Weise. Mit besonderer Sinnlichkeit und einem bis ins Klangbild des einzelnen Wortes fein gezeichneten Umriss (das Musikalische ist federführend) führt uns die Autorin die Interieurs der Kindheit und Jugend vor Augen.
Aber ihre Methode erlaubt es ihr auch, in den Lebensgeschichten der Elterngenera-tion umherzugehen, und auch dann ist ihr Zugriff von einer genauen Empfindung konkreter Dinge und Räume dieser Zeit getragen. Nadja Küchenmeister verfügt über Lakonie, Humor und Witz. Umwerfend ist die Schönheit ihrer Liebesgedichte.
Lutz Seiler
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Der Kunstpreis Fotografie 2010 geht an: Kai Wiedenhöfer mit „Grenzländer – Eine photographische Reflektion zu 50 Jahre Mauerbau in Berlin 2011“ (6.000 Euro) und Sabine Springer mit „solenn“ (4.000 Euro).

Kai Wiedenhöfer wurde 1966 in Schwenningen am Neckar geboren; 1988 Praktika bei Photographen und Photolaboren; 1991/92 Arabischkurse am Arabic Teaching Institute for Foreigners und dem Institute Francais Etudes d´Arabes in Damaskus; 1995 Master of Arts in Kommunikationsdesign an der Universität Essen / Folkwang Schule, Studienschwerpunkte Dokumentarphotographie, Zeitschriften und Buchgestaltung

Jurybegründung
In Deutschland wurde jüngst der 20. Jahrestag des Mauerfalls geradezu euphorisch gefeiert. Doch neue Mauern werden heute überall auf der Welt errichtet, um sich voneinander abzugrenzen und sich vor vermeintlichen Bedrohungen zu schützen. Dahinter steht häufig ein undemokratischer, unsolidarischer Verteilungskampf zwischen den Staaten, gelegentlich auch politische oder religiöse Motive. Was früher die Burg oder die zinnenbewehrte Stadtmauer war, ist heute eine staatsrechtliche Konstruktion namens Schengen, die sich in Form uniformierter Zöllner manifestiert, oder ein Stahlzaun zwischen den USA und Mexiko – bei den Versuchen, diesen illegal zu überwinden, werden jährlich mehr Menschen getötet als an der innerdeutschen Mauer zwischen 1961 und 1989 insgesamt.
Die Grenze zwischen Nord- und Mittelamerika hat der Berliner Photograph Kai Wiedenhöfer in eindrucksvollen Bildern dokumentiert. Dahinter steht die Idee einer moralisch integren, aufklärerischen Reportagephotographie, wie sie seit Jahrzehnten – auch im Umfeld mancher bedeutender Photographenagentur – gepflegt und publiziert wird. Wiedenhöfer reiste in viele Länder und spürte dort die Existenz von Mauern auf, etwa zwischen Israel und dem Gaza-Streifen oder in Belfast; sie bestehen aus den unterschiedlichsten Materialien und existieren in verschiedenen Durchmessern und Höhen. Die Mauern, die die Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religionszugehörigkeit oder aufgrund politisch-ideologischer Motive trennen, sind nicht immer aus Stein und Stahl, manche sind mitunter unsichtbar. Die künstlichen, nur schwer zu überwindenden Hürden verlaufen meist über Hunderte von Kilometern und werden von Tausenden von Wachsoldaten zusätzlich beschützt.
Kai Wiedenhöfer kann mit seinem deutschen Pass und seiner Kamera meist auf beide Seiten der jeweiligen Mauer schauen. Überdies hilft ihm, der vor dem Photostudium an der Folkwang-Hochschule Arabisch in Damaskus studierte, ein polyglott-kosmopolitischer Umgang mit den Wachleuten vor Ort. Sein photographisches Werk wurde seit Mitte der 1990er Jahre bereits mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet sowie häufig in renommierten Magazinen publiziert.
Mit der großangelegten, konsequenten Bildserie, die 2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus auch als Buch veröffentlicht wird, legt er ein eindrucksvolles Bekenntnis für die Überwindung von Mauern (auch die in unseren Köpfen) sowie für eine solidarische Staatengemeinschaft ab. Als Student im ersten Semester photographierte Wiedenhöfer den Fall der Berliner Mauer – es war, wie er sagte, „das aufregendste und positivste Ereignis“ seines Lebens. Es bleibt zu hoffen, dass seine aktuellen Bilder von den anderen Mauerstätten weltweit wiederum Menschen anspornen, die Mauern ebenso friedlich einzureißen, wie es 1989 in Berlin geschehen ist.
Matthias Harder

Bewerbung Kai Wiedenhöfer
1989 photographierte ich als Student im ersten Semester den Fall der Berliner Mauer. Es war das aufregendste und positivste, politische Ereignis meines Lebens – erlebte Geschichte. Es hat mich tief bewegt und war eine prägende Erfahrung.
Damals glaubte ich wie die meisten, dass dies das Ende von Mauern wäre und sie als ein politischer Anachronismus auf der Müllhalde der Geschichte landen. 20 Jahre später muss ich erkennen, dass diese Annahme falsch war: Im Gegenteil, Mauern feiern eine Renaissance und schießen in Europa, den USA und im Nahen Osten in die Höhe.
Von 2003 bis 2006 photographierte ich den Bau der Grenzbefestigungen in den israelisch besetzten Gebieten und publizierte dazu im Steidl Verlag 2007 das Buch „Wall“. Auf dieser Arbeit aufbauend, arbeite ich jetzt an einem umfassenden Projekt über Grenzen weltweit, um aufzuzeigen, dass Zäune und Mauern von Grenzen keine Lösungen sind für politische und wirtschaftliche Probleme.
Eine Mauer ist ein Beweis für menschliche Schwächen und Fehler, die Unfähigkeit der Menschen sich zu verständigen. Die einfachste Reaktion auf Probleme besteht darin, eine Mauer zu bauen, sich abzuschotten, sich abzugrenzen. Denn was von außen kommt, VON DORT, kann nur eine Bedrohung sein, eine Ankündigung von Unheil, ein Vorbote des Bösen.
Die Annäherung an eine Grenze lässt die Spannung in mir steigen. Wir Menschen sind nicht gemacht für ein Leben in Grenzsituationen. Wir meiden sie oder versuchen sie möglichst schnell hinter uns zu bringen. Und doch stößt der Mensch ständig auf sie, sieht und fühlt sie. Grenzen bedeuten Stress, ja sogar Angst.
„Ich hier – Du da“, Grenzen weisen uns Plätze zu, warnen uns wegzubleiben. Sie werden vermehrt befestigt und ausgebaut. Ihre elektronische Überwachung erinnert mich an Juweliergeschäfte, die in alarmgesicherten Schaufenstern ihre Kostbarkeiten feilbieten, welche für die meisten von uns aber unerreichbar bleiben.
Grenzen verlaufen entlang von Ideologien, arm und reich, Religionen und Ethnien. Ihre Bedeutung ist nicht nur von geographischer Natur, sie verlaufen vor allem in unseren Köpfen. Sie verunstalten Landschaften wie Gedanken. Dies ist der schlimmste Aspekt von Grenzen, dass sie in vielen Menschen eine Haltung von Grenzverteidigern weckt. Die Draußen sind die Schlechten, die Drinnen die Guten. Man kann weit entfernt von einer Grenze wohnen, es genügt das Bild der Grenze zu verinnerlichen und sich nach den Regeln zu richten, die einem die Logik der Grenze auferlegt.
Die Globalisierung verheißt uns die Abschaffung von Grenzen. Wie sieht die Realität aus? Der Schein der Globalisierung trügt: Sie erweitert die Märkte, aber auch die Unsicherheit in der Welt. Die Grenzen zwischen Arm und Reich vertiefen sich, Kapital bewegt sich grenzenlos – Menschen nicht.
Den Zwiespalt, der in Grenzen steckt, möchte ich aufzeigen: Einerseits sehnen wir uns nach bedingungsloser absoluter Grenzenlosigkeit, vielleicht weil die großen Weltreligionen das Paradies so beschreiben, die wirtschaftliche Globalisierung (unsere de facto Religion) sie fordert, andererseits wollen wir uns abspalten, unsere Identitäten stärken, unsere Kultur, unsere Gemeinschaft. Wir bewundern Wohltätigkeit, sind aber nicht bereit unseren Wohlstand zu teilen.
Das Projekt soll über einen rein dokumentarischen Charakter hinausgehen, die Psychologien von Grenzen beleuchten, Fragen aufwerfen und eigene Erfahrungen wachrufen. Viele von uns fühlen, dass wir nicht nur Betrachter sind.
Neben den Mauern in Belfast, Israel/besetzte palästinensische Gebiete, USA/Mexiko beabsichtige ich noch in Korea, Bagdad und Zypern zu photographieren, mit den europäischen Enklaven in Ceuta et Melilla sowie Korea habe ich bereits begonnen. Das Preisgeld würde mir bei der Weiterführung dieses Projektes sehr helfen, das ich 2011 zu 50 Jahre des Berliner Mauerbaus abschließen möchte. Es wird im August 2011 als Buch im Steidl Verlag erscheinen.

Sabine Springer: 1976 geboren in Münster; 1996 allgem. Hochschulreife Abitur; 1997 Praktika beim Film, Hamburg (Studio Hamburg; Regie-Praktikum bei Sönke Wortmann); 1997/98 Gasthörerin an der HFBK in Hamburg; 1998-1999 Fotoassistenz bei U. Nürnberg, Hamburg; 1999-2006 Fotografiestudium an der Fachhochschule Dortmund; seit 2001 verschiedene Assistenzen in Düsseldorf und Hamburg; 2006 Diplom bei Prof. Susanne Brügger; seit 2008 lebt und arbeitet in Berlin

Jurybegründung
Prostitution, vielfach als ältestes Gewerbe der Welt beschrieben, stellt einen beträchtlichen Wirtschaftsfaktor in unserer heutigen Gesellschaft dar. Auch wenn die Prostitution als solche legalisiert wurde, bewegen sich viele Bereiche in einer Grauzone. Für Außenstehende ist dieses Gewerbe oft kaum nachvollziehbar. Selbst aufgeklärten und um Enttabuisierung bemühten Beobachtern bleiben Zweifel. Klischeehafte Bilder von der sozialkritischen Reportage bis zu voyeuristischen Einblicken tragen nur bedingt zur Aufklärung bei.
Auch Sabine Springer kann mit ihrer Bildserie „solenn“ (lat.: würdevoll) keine generellen Antworten liefern. Sie hat aber für das Thema Prostitution eine Bildsprache entwickelt, die einen anderen Zugang ermöglicht. Wie schon bei ihrer Diplomarbeit „Zonar“ im Jahr 2006 (hier fotografierte sie einen Swinger-Club) kombiniert sie mit Infrarottechnik fotografierte Bilder der agierenden Protagonisten mit farbig fotografierten Details der Umgebung. Die Prostituierten sind oft nur von hinten zu sehen, werden nie bloß gestellt. Die spezielle Aufnahmetechnik ermöglichte Bilder, die Intimität und Distanz verbinden. Im Gegensatz dazu zeigen die Raumbilder präzise Details, oft Dekorationen zwischen Sehnsüchten und einer gewissen Schäbigkeit.
Die Serie „solenn“ entstand in Zusammenarbeit mit einer Organisation, die Prostituierten hilft, aus ihrem Beruf auszusteigen.
Anna Gripp

Bewerbung Sabine Springer
„solenn“ 2007/2009
In Zusammenarbeit mit einer Organisation, die Prostituierten hilft, aus ihrem Beruf auszusteigen sollte eine Arbeit entstehen, die dieses Thema beleuchtet. Da dieses Thema mich fesselt und einen engen Zusammenhang mit meiner Diplomarbeit „Zonar“ aufweist, habe ich eine eigene Serie daraus entwickelt. Ich frage mich: Inwieweit ist dieses Thema noch immer ein gesellschaftliches Tabu? Inwieweit erkennt der Betrachter die Thematik hinter meinen Fotografien? Wie wird Prostitution, Bordell, Rotlichtmilieu in der Gesellschaft und den Medien dargestellt, und wie realistisch ist diese Darstellung?
Während der Auseinandersetzung mit dem Thema und dem Zusammentreffen mit den Frauen, konnte ich herausfinden, wie ein Großteil der Frauen aus den vielfältigsten Gründen in die Prostitution hineingeraten. Viele arbeiten zunächst nur gelegentlich und mit der Hoffnung, dass sie, nachdem eine gewisse Geldsumme verdient oder z. B. Schulden abgetragen wurden, sofort mit der Prostitution aufhören können.
Nachdem allerdings die Einstiegshemmungen abgebaut sind und anfangs gut verdient wird, stellt sich eine gewisse Euphorie ein. Ein gesellschaftliches Tabu wurde überwunden und profitabel übertreten.
Diese Anfangseuphorie lässt jedoch oftmals nach einigen Monaten nach und die Frauen finden sich isoliert im Prostitutionsmilieu wieder. Die Art ihrer Erwerbstätigkeit, die noch immer ein gesellschaftliches Tabu ist, zwingt die Frauen oft zum Kontaktabbruch mit alten Freunden oder aber zumindest zu Lügen und oft zu einem Doppelleben. Zu-dem ergeben sich emotionale Abhängigkeiten und finanzielle Verpflichtungen, die die Frauen in diesem Milieu halten.
Ein großes Problem von Frauen innerhalb dieser Tätigkeit sind unter anderem die Furcht vor dem Verlust der Achtung und Zuneigung anderer Menschen, Gefühle wie Schuld, Einsamkeit und Ausgeschlossensein, eigener Wertlosigkeit und Scham. Dazu gesellt sich die Angst, womöglich unfähig zu sein, sich aus der Prostitution zu lösen und ein anderes, „normales“ Leben beginnen zu können.
Durch die ihnen entgegengebrachte Geringschätzung sind Prostituierte physischem und psychischem Druck innerhalb, aber auch außerhalb des Milieus ausgesetzt. Gründe dafür sind insbesondere in der mangelnden Unterstützung durch Gesellschaft und Kultur zu suchen, welche lange Zeit diese Art des Gewerbes als unmoralisch, unsittlich und gesellschaftsverderbend bezeichnete.
Es gibt Organisationen, Beratungsstellen für Prostituierte und Selbsthilfegruppen, die den Frauen helfen, ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben in Sicherheit zu führen, angstfrei und ohne finanzielle und emotionale Abhängigkeiten.
Auch geht es um die sozialrechtliche Gleichstellung von allen in der Prostitution arbeitenden Menschen und die Beendigung von Diskriminierung und Kriminalisierung. Meine eingereichte Arbeit „solenn“ entstand genau unter diesen Gesichtspunkten.