Preisträger 2016

Den Kunstpreis Literatur 2016 vergaben die Literaturjuroren an: Michael Wildenhain für seinen Roman „Das Lächeln der Alligatoren“ und einen Förderpreis an Jakob Nolte für seinen Debütroman „ALFF“.

Den Kunstpreis Fotografie 2016 vergab die Fachjury an:
Verónica Losantos für ihre Serie „screen memories“ und
Sven Gatter für seine Arbeit „BLÜTEZEITEN“.

Die öffentliche Preisverleihung einschließlich der Ausstellungseröffnung zum Kunstpreis Literatur Fotografie fand am 7. Juli 2016 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam statt.

Kunstpreis Literatur

Michael Wildenhain

1958 geboren in Berlin, 1977 Abitur; Maschinenbaupraktikum, 1977 Wirtschaftsingenieurstudium, 1981 Philosophiestudium, 1983 zum beispiel k., Erzählung. Rotbuch Berlin, 1985 Informatikstudium, 1987 Prinzenbad, Roman. Rotbuch Berlin. Leonce-und-Lena-Förderpreis/Lyrik, 1988 Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, 1989 Das Ticken der Steine, Gedichte. Rotbuch Berlin, 1991 Die kalte Haut der Stadt, Roman. Rotbuch Berlin, 1993 (UA) Umstellt. Staatsschauspiel Dresden. (UA) Im Schlagschatten des Mondes. Landestheater Tübingen, 1994 Heimlich, still und leise, Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt/M., 1995 (UA) Hungrige Herzen. Theater Heilbronn. Hänsel und Gretel oder … Berliner Ensemble, 1996 (UA) Ins Offene. Theater am Halleschen Ufer Berlin, 1997 Erste Liebe Deutscher Herbst, Roman. S. Fischer, Frankfurt/Main. Alfred-Döblin-Preis (für: „Erste Liebe Deutscher Herbst“), 1999 (UA) Der Deutsche Zwilling. Staatstheater Saarbrücken, 1998 Villa-Massimo-Stipendium Rom, ab 2004/05 Gastprofessuren am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), 2005 Russisch Brot, Roman. Klett-Cotta, Stuttgart. Stipendium Villa Concordia, 2006 London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds, 2007 Die schönen scharfen Zähne der Koralle, Lyrik. Bamberg, 2008 Träumer des Absoluten, Roman. Klett-Cotta, Stuttgart. (UA) Dutschke. Theater Bielefeld, 2011 Wie es war, Liebesgedichte. Edition Poema, Weilerswist. Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds, 2012 Theaterstücke. Henschel Schauspiel, Berlin, 2013 Blutsbrüder, Jugendroman/TB. Ravensburger Buchverlag, 2014 Leo, der Held und der Traum vom Fußball, Kinderbuch. Rav. Sommerferien, Radioerzählung (RBB), 2015 Nominierung Leipziger Buchpreis (für: „Das Lächeln der …“) diverse Rundfunkbeiträge (u.a. „Schöneberger Splitter“/DLR). Das Lächeln der Alligatoren, Roman. Klett-Cotta Stuttgart. Alle gegen Lukas, Kinderbuch. Ravensburger Buchverlag.

Jurybegründung
In Michael Wildenhains neuem Buch „Das Lächeln der Alligatoren“ verschränkt sich die Familiengeschichte des Helden über zwei Generationen mit der jüngeren Zeitgeschichte. Der Autor spannt erzählerisch einen Bogen, der von den Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten bis zum Deutschen Herbst von 1977 reicht. Wildenhain geht den Fragen von persönlicher Schuld, geschichtlicher Verstrickung, Verrat und Liebe in einem Roman nach, der zugleich politischer Thriller und emotionales Familiendrama ist. Mit hohem literarischen Formbewusstsein spielt er die verschiedenen Arten von Schuld als zentrales Motiv des Romans durch: Schuldlos bleibt im Roman am Ende keine der Figuren. In atmosphärischer Dichte zeichnet Wildenhain das Bild einer Gesellschaft, die vom Trauma des Nationalsozialismus eingeholt wird, und setzt auf beeindruckende Weise den gängigen historischen Deutungsmustern eine literarische Wirklichkeit entgegen, mit der er auf der Ambivalenz der Figuren und des Geschehens besteht.

Dr. Peter Walther
für die Jury

Jakob Nolte

1988 geboren in Barsinghausen am Deister, 2010 Studium Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Seine Texte wurden unter anderem am Schauspiel Leipzig, am Thalia Theater Hamburg und am Schauspielhaus Zürich produziert, 2013 mit Michel Decar, Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin für ihr Stück Das Tierreich, was seitdem an über 15 Theatern gespielt wurde. Gerade wurde sein Stück „Gespräch wegen der Kürbisse” zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin eingeladen. Debütroman ALFF erschien digital beim Modellprojekt Fiktion in deutscher und englischer Sprache, und wurde dann, 2015 bei Matthes & Seitz Berlin verlegt, 2016 Stipendium der Villa Kamagowa in Kyoto.

Jurybegründung
Jakob Nolte, Jahrgang 1988, wuchs in der Region Hannover auf und studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. In seinem Prosadebüt ALFF schlägt er einen neuartigen, aufregenden Ton an. Dass das Neue oft als Irritation oder gar Zumutung daherkommt, macht schon das Handlungsgerüst klar: In der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Beetaville kommt es zu einer kruden Mordserie an Schülern der „High & Low Highschool“. Die Auflösung des Falles interessiert Nolte allerdings nur am Rande. Vielmehr benutzt er die Form des Mystery-Thrillers, um über die magische Endzeitstimmung vor der Jahrtausendwende und die Befindlichkeiten von Menschen angesichts existentieller Notsituationen zu schreiben. Vor allem der abgründige Prozess des Erwachsenwerdens, den seine sonderbaren Protagonisten durchlaufen, hat es ihm angetan. Dabei erzählt er absichtlich unordentlich. Gekonnt wechselt er die Geschwindigkeiten, er bricht oder würgt ab, strickt seine Kenntnis der abendländischen Kultur auf oft überraschende Weise in den Text, macht sich lustig über das klassische Erzählen, das er gleich darauf selbst braucht und dann auch aufs Schönste anwendet. Diese Art Unverbundenheit ist eine Kunst. Zwar macht der Bruch/ die Brechung das Wesen des Romans aus, doch ruht sich der Autor nicht auf Effekten aus. Seine skurrilen Figuren, ihre elliptischen Gespräche und bizarren Gedankengänge sind nicht bloß Spielereien. Sie können als direkte Abbildungen der Wahrnehmungen unserer Welt gelesen werden. Einer ebenso grausamen wie entzückenden Welt, in der die Trostlosigkeit genau wie das Wunder regiert. Noltes Roman, der von erheblichem sprachlichen und erfinderischen Mut zeugt, trägt dieser Vielschichtigkeit Rechnung.

Julia Schoch
für die Jury 

Kunstpreis Fotografie

Verónica Losantos

1984 Geboren in Logroño, Spanien, 2003-2007 Audiovisuelle Kommunikation Studium an der Burgos Universität, Spanien, 2010-2013 Ausbildung in Fotodesign am Lette-Verein Berlin, 2010 1. Preis IHK Berlin Fotowettbewerb, 2013 2. Preis „Close Up!” Fotowettbewerb bei C/O Berlin, 2014 „Talents” Fotowettbewerb bei C/O Berlin, 2014 „Terminal” , Projektraum PhotoWerkBerlin, Europäische Monat der Fotografie Berlin, 2015 „Der Greif: Guest Room – Katrin Weber”, Ausstellung Galerie F5,6, Munich, 2015 Gewinnerin der Ausschreibung der Botschaft von Spanien/Berlin, Gruppenausstellung „Einbahnstraße”, 2016 „Screen Memories” Einzelausstellung, Darmstädter Tage der Fotografie, 2016 Photoespaña – Forum Comunidad de Madrid „Hacer”. Arbeitet derzeit als freelance Fotografin und im Bereich Bildung für die Gesellschaft für Humanistische Fotografie Berlin.

Bewerbung
Als „screen memories“, auf Deutsch „Deckerinnerungen“, bezeichnete Sigmund Freud eine bestimmte Art von Kindheitserinnerung. Er unterschied zwischen scheinbar gleichgültigen und nebensächlichen Kindheitserinnerungen und solchen, die er als eindrucksvoll, wichtig und affektreich bezeichnete. Diese letzteren, bedeutsamen Eindrücke werden jedoch durch die ersteren, weniger bedeutsamen „gedeckt“.  Dieser Vorgang ist nach Freud auf einen Widerstand bei der bewussten Reproduktion von Gedächtnisinhalten zurückzuführen. Dabei kommt es meist zu Erinnerungsfehlern oder Erinnerungsverfälschungen.

In dieser Serie setzte ich mich mit diesem Prozess auseinander und versuchte herauszufinden, ob die eigenen Erinnerungen mit Hilfe der Fotografie verändert bzw. verfälscht werden können, und ob man seine Erinnerungen selber manipulieren kann. Aus der gemeinsamen Zeit mit meinem Vater blieben kaum Fotografien. Dadurch, dass ich die Momente, die ich mit ihm geteilt habe, nicht durch Bilder wiedererleben konnte, sind diese schneller in Vergessenheit geraten.
Um dies darzustellen, habe ich in drei Richtungen gearbeitet: ich habe die Erinnerungen inszeniert, die ich noch an die Zeit mit meinem Vater habe. Dann habe ich Fotografien nachgestellt, von denen ich weiß, dass mein Vater sie damals selbst fotografiert hat, beziehungsweise Bilder, die ihn selbst abbilden. Als letztes erfinde ich Erinnerungen und kreiere eine Vergangenheit, die es nicht gab. Ich inszeniere und imaginiere Momente und Situationen mit meinem Vater neu und kreiere dadurch eine bewusste Simulation beziehungsweise Manipulation von Gedächtnisinhalten.

Jurybegründung
Screen memories
Die auf einer variablen Anzahl von Fotografien basierende Installation „screen memories“ von Verónica Losantos widmet sich dem Themenkomplex von (Kindheits-) Erinnerung, Identitätsbildung und der Überlagerung von Gedächtnisbildern an der Schnittstelle von (Unter-)Bewusstsein und bewusster Erinnerungsreproduktion. Die von Sigmund Freund geprägte Theorie über „screen memory“ – zu Deutsch „Deckerinnerung“ – meint eine bestimmte Art der Kindheitserinnerung, die individuelle Erfahrungen und Eindrücke in einer lücken- und fehlerhaften Weise im Gedächtnis abspeichern und somit häufig eine zu einem Trauma führende Verschiebung der Relevanz von Ereignissen nach sich zieht.

Verónica Losantos fotografische Bildserie „Screen memories“ setzt sich konkret mit dem Verlust bzw. der Abwesenheit des Vaters auseinander. Motiviert durch die eigene Erfahrung der weitgehenden Absenz des Vaters (re-)inszeniert die Fotografin Situationen, an die sie sich im Erleben des eigenen Vaters zu erinnern glaubt. Da keine Fotos aus ihrer Kindheit bestehen, die Vater und Tochter abbilden, fehlt das historische Dokument der Zeugenschaft. Ob jene, nunmehr aufgrund der Erinnerung produzierten Bilder, gestellt oder nachgestellt sind, lässt Verónica Losantos Arbeit bewusst in der Schwebe, indem sie keinen Wahrheits- oder Authentizitätsanspruch stellen. Vielmehr wird durch die formale Umsetzung die Gratwanderung zwischen Imagination und sogenannter Wirklichkeit zugespitzt, indem die Ungewissheit, ja geradezu Unzuverlässigkeit von Erinnerung und die Subjektivität, die Gedächtnisbildern grundsätzlich immanent ist, in den fotografischen Diskurs und die fotografische Bildproduktion übertragen wird.

Durch die lose Aneinanderreihung einer Einzelbildabfolge erzeugt „screen memories“ keine lineare Erzählung, sondern eine, die auf bruchstückhafter Narration beruht. Erinnerungsfragmente, die zwischen Imagination und Realität oszillieren, werden in poetische Bilder gefasst, die die Fragilität persönlicher Identitätsbildungen spiegeln. Analog zu jenen bildlichen Reminiszenzen unterschiedlicher Momente der Vergangenheit zeichnen sich die Fotografien durch eine gewisse räumliche Distanz zum Abgebildeten oder auch dessen Fragmentierung aus. So wird beispielsweise die Figur des Vaters aus großer Entfernung oder nur mit einem Ausschnitt des Körpers repräsentiert. Dadurch entsteht eine Anonymisierung, die keine Rückschlüsse auf das konkrete Individuum zulässt. Der Fokus liegt auf der Beziehung zwischen einem Vater und einem Kind, einem Mädchen. Die leicht verblichen wirkenden Fotografien werden durch ihre wie mit einem schleierhaften Filter belegte, durchgängige Tonalität homogenisiert, aber gleichermaßen auch in einer undatierten Vergangenheit verankert. Somit löst sich die Arbeit auch von der Biografie der Fotografin ab und verweist auf die Phänomenologie der Bedingungen (Bild-)Gedächtnis, Erinnerung und Identität.
Am Ende stellt die Arbeit von Verónica Losantos auch die Frage, inwieweit die Fotografie ein Medium der Vergangenheitsdokumentation und / oder der Vergangenheitsherstellung ist.

Ulrike Kremeier
für die Jury

Sven Gatter

1978 in Halle a. d. Saale geboren; aufgewachsen in Bitterfeld, 1999-2006 Studium der angewandten Sozialwissenschaften in Erfurt; Abschluss mit einem Diplom als Sozialpädagoge, 2004-2005 Besuch der Abendakademie der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, seit 2006 Arbeit als Pädagoge, 2010-2012 Besuch der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin, seither fotografische Aufträge für Verlage, Zeitschriften, Verbände und Unternehmen; Arbeit an eigenen fotografisch-künstlerischen Projekten; Beteiligung an Ausstellungen und Publikationen, 2011 Anerkennung und Ausstellungsbeteiligung beim OPUS Fotografie Preis, Galerie der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken, 2013-2014 Entwicklung des Gesamtkonzepts der Ausstellung „Der dritte Blick“ (gemeinsam mit Nadja Smith, in einer Kooperation mit Perspektive hoch 3 e.V., Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V. und Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur)

Bewerbung
Mit der Arbeit „Blütezeiten“, die ich der Jury des Lotto Brandenburg Kunstpreises in die drei Kapitel „Goitzsche“, „Hütten“ und „Luft Schiffe“ unterteilt präsentiere, widme ich mich der Gegend um Bitterfeld. Dort, wo einst der Braunkohlebergbau die Stromversorgung der ansässigen Chemiebetriebe sicherte, haben Umweltverschmutzung, überbaggerte Ortschaften und die Abwicklung großer Industrieanlagen Wunden in der Natur und bei den Menschen hinterlassen. Inzwischen wurde die Umgebung von Bitterfeld in eine Landschaft verwandelt, die zur Erholung einladen soll. Dieser Veränderungsprozess ist beispielhaft für die alten, abgehängten Industriestandorte in Ostdeutschland, in denen die Menschen seit 1990 nach neuen Sinnzusammenhängen suchen. Von den üblichen Wachstumserwartungen haben sie sich zwar verabschieden müssen, um Bedeutsamkeit und neue Erfolgsgeschichten ringen sie aber noch immer.

Ich bin in Bitterfeld aufgewachsen, nach meinem Schulabschluss habe ich die Stadt verlassen. Gleichwohl fühle ich mich der Region in besonderer Weise verbunden. Seit mehr als fünf Jahren laufe ich regelmäßig die Wege im Umland der ehemaligen Tagebaue ab, halte meine Bewegungen durch den Landschaftsraum fotografisch fest und porträtiere die Menschen, die mir begegnen. Immer wieder stoße ich dabei auf die Bemühungen derjenigen, die den Wandel als Chance begreifen wollen und deren Aktivitäten oft erst durch den Niedergang der Industriestätten möglich wurden. Die wachsende Kluft jedoch, die sich zwischen den Profiteuren und den Verlierern der Veränderungen auftut, ist nicht zu übersehen.

Meine Arbeit verstehe ich nicht als klassische Dokumentation, in der es darum ginge, Bitterfeld und seine Umgebung in all seinen Facetten zu erfassen. Vielmehr versuche ich eigene Fotografien, kindliche Erinnerungen, Notizen aus Gesprächen mit Einheimischen sowie Bildrecherchen in öffentlichen und privaten Archiven zu subjektiven Narrationen zu verdichten. Dadurch lösen sich meine Bilder und Texte gewissermaßen von ihrem Entstehungsort, um eine eigene Wirklichkeit zu entfalten.

Jurybegründung
Sven Gatter nennt einen Teil seiner prämierten Bildserien „Luft Schiffe“. Er zeigt uns Motorboote, genauer gesagt Schnellboote für Formel 500 Rennen, die auf dem Wasser ausgetragen werden.

Dabei erlaubt sich der Fotograf, die Boote nicht in ihrem Element, dem Wasser, abzulichten, sondern schwebend in der Luft. Das bringt gleich zwei Vorteile mit sich. Erstens: wir können von den Booten etwas mehr sehen, ihre Konstruktion und ihr Design besser erkennen, ohne störendes Wasser.

Aber vor allem lädt er uns zu einem Gedankenspiel ein: was passiert mit den Dingen, wenn wir Ihnen ihre Bestimmung rauben? In unserem Fall, bei den „Luft Schiffen“, entsteht auch ein wenig Komik: die Boote, hängend an den Seilen, werden zu kleinen, spielerischen Objekten. Ihre Männlichkeit und Kraft, wenn sie mit voller Geschwindigkeit auf dem Wasser dahin rasen, verwandelt sich in Niedlichkeit. Und das nur, weil sie sich in einem anderen Medium befinden. Sie können plötzlich nicht mehr ihre innewohnende Energie austoben, wir spüren ihre Hilflosigkeit, wie sie da wie an einem Mobile in der Luft hängen. Auch weil Sven Gatter seine Boote aus der Distanz, mit viel Himmel, aufgenommen hat, verstärkt sich der Eindruck des Spielerischen. Sven Gatter schlägt innerhalb seiner Arbeit einen großen historischen Bogen zum Industriezeitalter. Seine Recherche ergab, dass vor etwas mehr als hundert Jahren am selben Ort wo seine Aufnahmen entstanden, sich ein frühes Zentrum der Luftfahrt entwickelte. Auch Dank der im Umland gewonnenen Braunkohle konnte hier das für die Ballone und Luftschiffe wichtige Wasserstoffgas produziert werden. Sven Gatter benennt diesen Ort als die  „Stadt B.“ – sie steht stellvertretend für viele ostdeutsche Städte die den Wandel von der Industriegesellschaft in eine Postindustriegesellschaft erlebt haben.

Die Ära der Luftschiffe ist nunmehr längst vorbei. Aus einem Sinnbild, dass einst eine dynamische Zukunft versprach, ist heute ein nostalgisches Motiv geworden. Mit der Umwälzung gingen bis zum heutigen Tage große gesellschaftliche Veränderungen einher. So wurde der Braunkohleabbau eingestellt, die Tagebaue geflutet – sie sind heute Orte der Erholung. Für den Wassersport bieten sie ideale Bedingungen. Hundert Jahre nachdem sich der uralte Menschheitstraum vom Fliegen verwirklicht hatte, wurde das Areal zu einem Mekka des Motorbootsports.

Die Luftschifffahrt (und der implizierte Gedanke der Freiheit und Unabhängigkeit) ist jedoch nie ganz verschwunden: sie lebt weiter in der Fantasie und Literatur – und in der wunderbaren Fotoarbeit von Sven Gatter.

Michael Biedowicz
für die Jury